Vor 17 Jahren, am 27. Juni 2001 wurde Süleyman Taşköprü hier in Hamburg-Altona
ermordet. Er war
31 Jahre alt, als er in seinem Lebensmittelladen in der
Schützenstraße vom
Nationalsozialistischen
Untergrund ermordet
wurde. Heute ist nach fünf Jahren der Prozess gegen fünf Mitglieder und Unter-
stützer des NSU zu Ende gegangen – mit
Verurteilungen der Angeklagten zu teils hohen Haftstrafen.
Aufklärung hat der Prozess jedoch nicht gebracht. Das liegt zum Einen an der Ignoranz der
Bundes-
anwaltschaft gegenüber dem Netzwerkcharakter des NSU. Vor allem aber daran, dass von Anfang an
die Perspektive der Betroffenen und der Angehörigen der Opfer, nicht wahrgenommen
wurde.
Noch am Tag des Todes von Süleyman Tasköprü wurde dessen Familie von der Polizei verhört. Die
Hamburger Beamt*innen, die überwiegend aus der Abteilung zu „Organisierter Kriminalität“ stammten,
ermittelten zu möglichen Täter*innen fast ausschließlich im familiären und
migrantischen Umfeld des
Opfers. Laut Osman Tasköprü, dem Bruder des ermordeten
Süleymans,
war diese Form der Ermittlung
eine große Belastung für die Familie: [zitat]„Dein Bruder oder Sohn ist gestorben und du wirst als
Verdächtiger oder Beschuldigter behandelt. Telefonate wurden abgehört, Nachbarn befragt und und
und.
Einige Bekannte und manche Freunde haben sich von uns abgewandt und den Kontakt abgebrochen.
Und immer wieder wurde man von Leuten angesprochen, die gesagt haben: ‚Wer auf so eine Art
stirbt,
wie dein Bruder, der muss ja irgendetwas gemacht haben‘."
Ein rassistisches Tatmotiv wurde von den Ermittler*innen systematisch ausgeblendet. Der Vater von
Süleyman Tasköprü, der seinen Sohn unmittelbar nach dessen Ermordung tot in seinem Laden auffand,
hatte in der Schützenstraße zwei „deutsch aussehende Männer mit einer Tüte in der Hand“ gesehen
–
diesem Hinweis wurde nicht nachgegangen. Auch die Fallanalyse eines bayerischen Profilers von
2006,
die ein rassistisches Motiv nahelegte und damit eine frühzeitige Ergreifung des NSU-Kerntrios
ermöglicht
hätte, wurde innerhalb der bundesweiten Ermittlungsgruppe von Hamburger Ermittler*innen
massiv
abgelehnt. Stattdessen bezogen sich die Beamt*innen öffentlich auf
rassistische Stereotype und gingen
von organisierter Kriminalität als Hintergrund der Tat aus. Die
Medienberichte haben diese
rassistischen
Annahmen unkritisch übernommen und weiter verbreitet. Das führte dazu, dass sich viele
Nachbar_innen
und Menschen aus diesem Viertel von der Familie abgewendet haben.
Bis heute hat sich die
Polizei Hamburg und die Hamburger Innenbehörde nicht
für die jahrelangen
Diffamierungen der Familie Tasköprü entschuldigt. Daran ändert
auch die vor zwei Wochen von der
Hamburger Bürgerschaft
beschlossene Entschuldigung bei der Familie nichts. Denn sie zieht
keine
Folgen nach sich, weder hinsichtlich einer angemessenen Entschädigung der
Familie, noch für
eine
Weiterführung der Aufklärung.
Hamburg ist eine Tatortstadt und muss sich seiner Verantwortung
der Aufarbeitung stellen. Im Mai
2012
sprach der Hamburger Innensenator Michael
Neumann noch von der
Notwendigkeit einer „rückhaltlosen
Aufklärung“ des Mordes an Süleyman Taşköprü. Heute ist Hamburg das einzige Bundesland, in dem der
NSU einen Mord verübt hat, das keinen Parlamentarischen
Untersuchungsausschuss eingerichtet hat.
Die Stadt verweigert sich einer tiefgreifenden Auseinandersetzung und hat bis jetzt ihre Verantwortung
für die Aufarbeitung an den Prozess in München
abgeschoben. Der Senat
ist der Meinung,
es gäbe nichts
mehr zu ermitteln, das Thema sei
durch.
Im Hamburger Innenausschuss wurde behauptet, Ermittlungen zu Verbindungen des NSU in die Hamburger Neonaziszene hätten keine stichhaltigen Hinweise ergeben. Auch das Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) gibt an, es hätte die Szene im Blick gehabt, jedoch keine Verbindungen zum NSU gefunden. Vertrauens-Leute, also bezahlte Neonazis aus anderen Bundesländern berichteten jedoch über den Kontakt zu Hamburger Neonazis. Dass Hamburg als Tatortstadt zufällig ausgewählt wurde, ist mehr als unwahrscheinlich.
Hamburg hatte spätestens seit Ende der 70er Jahre ein große Bedeutung für die Organisierung der Neonazi-Szene. Im Hamburger Umland entstanden Konzepte für den bewaffneten Kampf und rechten Terror. 1980 töteten Neonazis der ‚Deutschen Aktionsgruppen‘ Nguyễn Ngọc Châu (Nujen Nop Chau) und Đỗ Anh Lân (Dou Anlan) bei einem Brandanschlag in der Hamburger Halskestraße. 1985 wurden Mehmet Kaymakçı und Ramazan Avcı auf offener Straße brutal von neonazistischen Skinheads umgebracht. Diese gewalttätigen, rechtsterroristischen Aktivitäten prägten nicht nur das politische Selbstbewusstsein der Hamburger Neonazis. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen wurden nach 1990 an die Kamerad_innen in den Neuen Bundesländern weitergegeben. In den 90er Jahren trafen sich Hamburger Neonazis und die späteren Mitglieder und Unterstützer_innen des NSU bei Demonstrationen und Konzerten. Auf diesen Veranstaltungen trat das spätere Netzwerk des NSU in Kontakt. Im Jahr 2002 bedankte sich das NSU-Kerntrio dafür durch Schreiben und Spenden, die mutmaßlich auch an die in Hamburg ansässigen neonazistischen Organisationen des Deutschen Rechtsbüros und die Nordische Zeitung versendet wurden. Die Hamburger Polizei unternahm daraufhin keine eigenständigen Hausdurchsuchungen und Ermittlungen in Bezug auf diese Hinweise.
Wir fragen uns also
Warum wird in Hamburg ein Untersuchungsausschuss verweigert?
Der NSU-Komplex bleibt im Zusammenhang mit dem Mord an Süleyman Taşköprü unaufgeklärt:
Osman Taşkörpü wünscht sich einen Aufschrei in Hamburg. Wir fordern daher gemeinsam mit den Angehörigen Süleyman Taşkörpüs die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses in Hamburg, der den Mord umfassend aufklärt und den NSU-Komplex in Hamburg gesellschaftlich aufarbeitet.
Der Ausschuss muss eine umfassende Antwort auf die Frage nach den Hintergründen der Ermordung Süleyman Taşköprüs geben, insbesondere zur Beteiligung Hamburger Neonazis. Er muss den institutionellen Rassismus in Polizei und Staatsanwaltschaft sichtbar machen, der für die Verdächtigung des Opfers und seiner Familie, wie für die Nichtverfolgung eines rassistischen Tatmotives verantwortlich war.
Wir fordern zusätzlich zur Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses eine unabhängige Untersuchungskommission, denn wir misstrauen staatlichen Untersuchungen nach dem bereits Geschehenen.
Wir fordern, dass sich nach der Bürgerschaft, auch der Senat und die Innenbehörde der Hansestadt Hamburg bei der Familie Taşköprü für die, auf rassistischen Stereotypen basierenden Verdächtigungen und für die Missachtung ihrer Aussagen entschuldigt und sie angemessen entschädigt.
Wir fordern, dass zukünftig Polizei und Staatsanwaltschaft in Fällen von Gewalt gegen Migrant*innen und People of Color einen rassistischen Hintergrund in Betracht ziehen müssen, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Wir fordern, dass Zivilgesellschaft, Medien und Öffentlichkeit in Fällen von Gewalt gegen Migrant*innen und People of Color misstrauisch bleiben gegenüber beschwichtigenden, verharmlosenden und ein rassistisches/neonazistisches Tatmotiv verleugnenden Einschätzungen von Polizei und Staatsanwaltschaft und ihrerseits weiterführende Untersuchungen betreiben.
Ziel der politischen und gesellschaftlichen Aufarbeitung des NSU-Komplexes in Hamburg muss es sein, dass staatlicher und gesellschaftlicher Rassismus als ein bestehendes Verhältnis verstanden wird. Um seine gewaltvollen Folgen zu verhindern ist eine andauernde kritische Auseinandersetzung notwendig. Dazu gehört die Erinnerung an in der Stadt verübte, rassistische Gewalttaten und ihre Opfer.
Wir fordern ein Gedenken und Erinnern in Hamburg, dessen Kern die Wünsche und Bedürfnisse der Angehörigen und Opfer rassistischer Gewalttaten bilden.
Das Ende des Münchener Prozesses ist für uns kein Ende der Aufklärung und der Auseinandersetzung mit rassistischen Kontinuitäten, rechtem Terror und dem NSU-Komplex. Es ist kein Ende des Erinnerns und kein Schlussstrich. Wir fangen gerade erst an.
Initiative zur Aufklärung des Mordes an Süleyman Taşköprü, 11.7.2018 Demo Kein Schlussstrich